Was ist der Wille des Sterbenden ?
Das Ende des Lebens entzieht sich der Normierung - und bleibt für den Arzt in jedem Einzelfall eine Herausforderung
Sind es wirklich über 70 Prozent der Bevölkerung, die aktive Sterbehilfe wollen? Wissen sie, was sie da fordern? Wie genau kann ein Patientenwille formuliert werden für eine Situation, in der man sich noch nicht befindet? Und gibt es überhaupt eine allgemeinverbindliche Definition für würdevolles Sterben?
Diese Fragen treiben nach der Eröffnung eines Büros der Schweizer Sterbe-hilfe-Organisation "Dignitas" in Hannover eine deutsche Öffentlichkeit um, die sich auch beim Thema Tod gerne an Prozentzahlen, Definitionen und klaren Vorgaben orientieren würde.
Der Wunsch nach Sterbehilfe kann auch der Schrei nach besserer Versorgung sein.
Daß Sterben trotz repräsentativer Bevölkerungsstudien immer noch individuell betrachtet werden muß und würdevolles Sterben ein gutes, aber nicht standar-disierbares Vertrauensverhältnis zwischen Arzt, Patient und Angehörigen vor-aussetzt, war Quintessenz einer Podiums-diskussion von "Deutschlandfunk" und der Wochenzeitung "Die Zeit" am Montag in Berlin.
Patientenverfügungen können nur Anhaltspunkte für Entscheidungen der Ärzte und Angehörigen bieten, nicht aber die Entscheidung selbst ersetzen, betonten die Praktiker auf dem Podium. "Ich habe noch nie erlebt, daß die Entscheidung, die zu treffen war, in einer Patientenverfügung exakt beschrieben wurde", sagte Professor Lukas Radbruch, Direktor der Klinik für Palliativmedizin am Uniklinikum Aachen.
Das Ende sei nicht absehbar, betonte Professor Eckhard Nagel, Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Uni Bayreuth, der auch dem Nationalen Ethikrat angehört. Es müsse zwar möglich sein, einen verbindlichen Willen für den Fall zu formulieren, daß man selbst nicht mehr entscheiden könne.
Konkretisierungen würden dabei aber weniger helfen als die Beschreibung der persönlichen Einstellung zu Leben und Tod. Letztlich müsse der Patient seinem Arzt vertrauen können, daß er verantwortlich handle, so Nagel.
Selbst für den Fall, daß ein Patient bei Bewußtsein ist, kann es für einen Arzt aber schwierig sein, dessen Willen zu ermitteln und die richtige Therapie-entscheidung zu treffen. "Wenn ein Patient nach Sterbehilfe fragt, ist das häufig ein Hilfeschrei nach besserer Versorgung", so Professor Radbruch.
Es könne sein, daß ein Sterbender sich eher dem Pflegepersonal als dem Arzt mit seinen Wünschen zum Lebensende anvertraue. Und schließlich müßten Ärzte auch akzeptieren, daß sie vielleicht andere Vorstellungen vom Sterben haben als ihre Patienten. "Manche wollen bei Bewußtsein, andere ohne Schmerzen sterben", sagt Radbruch.
Daß Ärzte gerade wegen der mangelnden Eindeutigkeit am Lebensende eines Patienten nicht per Gesetz oder Patientenverfügung aus der Entscheidungs-verantwortung entlassen werden dürfen, glaubt Dr. Wolfgang Wodarg, SPD-Bundestagsabgeordneter und in der vergangenen Legislaturperiode Mitglied der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin".
"Je unpersönlicher wir die Entscheidung machen, je mehr Vorgaben wir formulieren, desto mehr gefährden wird die Empathie der Ärzte und Pflegenden", sagte Wodarg.
Ärzte Zeitung, 26.10.2005